Der Anfang des 19. Jahrhunderts war eine Zeitenwende in mehrfacher Hinsicht. Im Geiste der Aufklärung begann man intensiv die Welt zu erforschen. Man begann Wissen zu sammeln, aber auch damit zu klassifizieren, einzuteilen und zu hierarchisieren. So ist eine Kehrseite der Aufklärung auch der Beginn von “wissenschaftlich” begründetem Rassismus.
Schon von Anfang an gab es aber auch Gegenbewegungen zur reinen “Vernunftbezogenheit” der Aufklärung. Eine dieser Gegenbewegungen war der sogenannte “Historismus”. Grundgedanke des Historismus ist, dass bestimmte Ereignisse oder Geisteshaltungen nicht nur aus der reinen Logik verstanden werden können, sondern aus ihrer Zeit heraus verstanden werden müssen. Voraussetzung für das Verständnis einer Zeit ist daher auch die Kenntnis der “Vorgeschichte”.
Positiver Effekt dieser Denkrichtung war die Gründung der modernen Geschichtswissenschaft. Die Kehrseite war die Tendenz existierende Zustände aus der Geschichte zu begründen, oder gar zu rechtfertigen. So spielte die Geschichtswissenschaft beispielsweise eine große Rolle bei der Bildung eines deutschen “Nationalbewusstsein”. Entscheidend bei der Konstruktion einer “nationalen Identität” war die Zuschreibung von Zugehörigkeit und die Abgrenzung zu anderen Identitäten.
Wie wirkt sich diese “geistige Wende” nun auf die Architektur aus und in unserem Fall auf die deutsche Architektur und ihr Verhältnis zum Orient?
Die Kenntnisse über orientalische Architektur wuchs Anfang des 19. Jahrhunderts stark an. Es erschienen zahlreiche Bücher mit exakten Beschreibungen orientalischer Architektur:
- Jean-Baptiste Lepere, “Description de l’Egypte” (erschienen 1809 – 1822), der Bericht über Napoleons Ägyptenfeldzug
- James Cavanah Murphy, The Arabian Antiquities of Spain (1815), der die Alhambra in Granada bekannt machte
- Joseph Philibert Girault de Prangey, Monuments arabes et moresques (1833-37)
- Owen Jones and Jules Goury, Plans, Elevations, Sections and Details of the Alhambra in 2 Bänden (London 1842-45)
Diese Kenntnisse förderten die Genauigkeit bei Zitaten orientalischer Architektur. Es wurden Vorlagen erstellt, die unter dem Oberbegriff “Maurischer Stil” zusammengefasst wurden. Hiermit wurden allerdings alle muslimischen Einflüsse zusammengefasst, unabhängig ob sie aus Andalusien, Nordafrika, Ägypten oder dem Osmanischen Reich kamen.
Als der Württembergische König Wilhelm I. nach der Entdeckung von Mineralquellen in Bad Cannstatt 1829 den Entschluss fasst ein “Badhaus” als privatem Rückzugsort bauen zu lassen, wünscht er ausdrücklich eine Ausführung “im maurischen Stil”.
Es dauert bis 1842, bis das Projekt schließlich in Angriff genommen werden konnte. Der Architekt Ludwig v. Zahnt (06.08.1796 – 07.10.1857) konnte daher auch auf die Berichte einer von Wilhelm I. selbst beauftragten Expedition zurückgreifen, die im Sommer 1840 nach Konstantinopel, Beirut, Jerusalem und Kairo gesandt wurde.
Im Gegensatz zur Moschee in Schwetzingen wurden in der Wilhelma korrekte und exakte Dekorationsformen islamischer Baustile verwendet. Wohlgemerkt ein Mix von Formen aus der gesamten muslimischen Welt, nicht nur aus Andalusien. Der Orientalist Hammer-Purgstall greift daher zu kurz, wenn er 1856 schwärmt, es handle sich um die “Alhambra am Neckar”.
Allerdings ist der Architekt von der Grundstruktur orientalischer Gebäude wenig überzeugt. Er entwickelt daher ein neues autonomes Konzept von “orientalisierender Architektur”, dass moderne Technik (z.B. Gusseisen-Techniken, Glasbauten), mit europäischer Tradition (Ausrichtung von Sichtachsen und Grundrisse) und orientalischer Dekoration verbindet.
Das „orientalische Flair“ stand hierbei für Eleganz, Luxus, farbige Pracht und einen weltlich heiteren Charakter. Das “Orientalische” bildet quasi einen Gegenentwurf zur neu entstehenden Moderne mit zunehmender Technisierung und politischer Instabilität. Kein Wunder also, dass sich der König für einen Rückzugsort in seiner Freizeit diesen Stil wünschte.
Dieser neue Stil wurde auch ein Exportschlager. Ein prominentes Beispiel ist der Deutsche Architekt Carl von Diebitsch (13.01.1819 – 15.06.1869). Er baute bekannte Gebäude im orientalischen Stil in Deutschland (beispielsweise das maurische Kabinett im Belvedere auf dem Pfingstberg in Potsdam (1850), das türkische Bad in Schloss Albrechtsberg in Dresden (1855) und den maurischen Kiosk im Schloss Linderhof (1867)), aber auch repräsentative Gebäude in Kairo (den Al Jazirah Palast – heute Marriott Hotel (1862), die Villa des Bankiers von Oppenheim (1863), oder den Palast von Nubar Pascha (1864)).
Aber kommen wir noch einmal zurück zur Wilhelma. Begonnen wurde 1842 mit dem Bau des “Badhauses”, das später als “Maurisches Landhaus” bezeichnet wurde und durch Gewächshäuser auf beiden Seiten ergänzt wurde. Es folgten Erweiterungen im Garten und 1851 der “Maurische Festsaal” und das “Belvedere”.
Abgeschlossen und endgültig fertiggestellt wurde das Ensemble 1864 (nach dem Tod des Architekten) mit der Damaszenerhalle am Ende des langen Sees.
Da die Gebäude während des zweiten Weltkriegs teilweise zerstört wurden, können wir heute nur teilweise die vollständige Pracht dieser Anlage nachvollziehen. Nur die Damaszenerhalle wurde bisher vollständig restauriert. Einen recht guten Eindruck der Inneneinrichtung erhält man, wenn man die Dokumentation des Architekten selbst betrachtet. 1855 veröffentlich von Zahnt eine großformatige Sammlung von Lithographien unter dem Titel: Die Wilhelma, Maurische Villa seiner Majestät des Königes Wilhelm von Württemberg, die zahlreiche Abbildungen der Inneneinrichtung und den Plan des Parks enthält (siehe hier).
Die Wilhelma ist eines der frühesten Beispiele des “maurischen Stils” im 19. Jahrhundert. Sie steht für den Anspruch einen Stil zu verstehen und Elemente korrekt wieder zu geben. Allerdings bleibt es nicht bei einer Imitation einer anderen Architektur, sondern um die Anwendung einer architektonischen Sprache im modernen Gewand.
Während in Schwetzingen der Islam noch als eine lebendige, bereichernde Weisheitslehre zitiert wurde, geht es jetzt aber eher um den Orient als ein Gegenbild. Um eine Flucht in eine romantische Traumwelt, die in der Realität längst vergangen ist.
Zum Weiterlesen:
Frank Scholze, Karl Ludwig Wilhelm von Zanth und die Wilhelma eine kurze Einführung zum 200. Geburtstag des Architekten, Stuttgart, 1996
Karl Ludwig von Zanth, Die Wilhelma, Maurische Villa seiner Majestät des Königes Wilhelm von Württemberg. Stuttgart 1855
Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, München 1965
Maximilian Friedrich Grimm, Die historische Wilhelma : Faszination Orient im 19. Jahrhundert, München 2016
Elke von Schulz, Die Wilhelma in Stuttgart: ein Beispiel orientalisierender Architektur im 19. Jahrhundert und ihr Architekt Karl Ludwig Zanth, Tübingen 1976
Valentin Hammerschmidt , Ein Gewürz des modernen Lebens – Orientalisierende Architektur in Sachsen und ihr Kontext, (Ringvorlesung „Islamische Kunst in Europa, in Deutschland und in Dresden“, 02.07.15)
Bildnachweis:
Titelbild: Die Wilhelma bei Cannstatt (um 1876)
Public domain by wiki commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:F_Brandseph_-_Wilhelma_bei_Cannstatt_(um_1876)_oR.jpg
Damascener-Halle, Wilhelma, Stuttgart, Lithographie aus König Wilhelm in seinen ländlichen Beschäftigungen 1855
public domain by wiki commons: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?search=Wilhelma+Damaszenerhalle&title=Special:MediaSearch&go=Go&type=image