1922: Essad Bey und der imaginäre Orient 

von | 2023 | Muslimische Spur

Eine der schillerndsten Personen in der literarischen Szene der zwanziger Jahre in Berlin ist Essad Bey. Er wurde als Lev Nussibaum 1905 als Sohn eines jüdischen Ölbarons in Baku geboren. Das kosmopolitische Baku liefert damals rund die Hälfte des weltweiten Erdölbedarfs. Viele werden reich, aber auch Glücksritter aus aller Herren Länder strömen hier zusammen. Die Atmosphäre hat etwas vom „Wilden Westen” und Goldrausch in einem. Kulturell entwickelt sich ein Klima der Toleranz und Liberalität.

Liobas (Kosename für Lev) Mutter – eine glühende Kommunistin – stirbt durch Suizid, als er sechs Jahre alt ist. Er wächst sehr behütet auf, darf kaum in die Stadt, da sein Vater befürchtet er könne entführt werden. Er ist häufig allein und flüchtet sich in die Welt seiner Bücher. Die quirlige Stadt von Baku mit den Bazaren wird sein Sehnsuchtsort. Er hat nur wenige Freunde, von denen die meisten Muslime sind. Levs Kindermädchen ist Deutsche, so dass er neben nordaserbaidschanischen Türkisch und Russisch fließend Deutsch spricht. 

Nach der wechselhaften Geschichte während und nach dem ersten Weltkrieg und der endgültigen Eroberung Aserbaidschans 1920 durch die Sowjets fliehen Lev und sein Vater auf verschlungenen Wegen aus der Stadt und kommen schließlich 1921 nach Berlin. Sie beziehen eine Wohnung in Charlottenburg, das aufgrund der vielen russischen Zuwanderer damals den Spitznamen Charlottengrad hat. Lev geht dort auf das russische Gymnasium. 

Da der Besitz seines Vaters enteignet wurde, verarmt die Familie zusehends. Lev spricht von „Hundert Arten von Hunger”. Neben dem „Not-Hunger” ist es aber auch der Hunger nach guter Kleidung, nach Kino und intellektueller Beschäftigung unter dem der 16-jährige leidet. 

Er findet eine Lösung für seinen Hunger nach Wissen und schreibt sich am 17. Oktober 1922 an der Universität im Fachbereich orientalische Sprachen für Türkisch und Arabisch ein.  

Er beginnt ein Doppelleben. Gegen 6 Uhr morgens macht er sich zu Fuß auf den Weg zur Universität. Von 15 bis 20 Uhr ist er der Gymnasiast Lev Nussibaum. Abends geht es nochmal zu Fuß zur Universität, dann Hausaufgaben und am nächsten Tag von vorn.  

Um an der Universität akzeptiert zu werden erfindet er eine neue Identität. Er nennt sich Essad Bey Noussibaum. Essad ist die arabische Übersetzung von Löwe, also seines Vornamens Lev und der Titel Bey soll seine adlige Herkunft andeuten. Denn er gibt sich als persischer Prinz aus. 

Im gleichen Jahr sucht er die osmanische Botschaft auf, um zum Islam überzutreten. Auch im Gymnasium besteht er nun darauf, Essad genannt zu werden, sehr zur Belustigung seiner jüdischen Mitschüler.  

Essad hat eine romantische Sehnsucht nach dem Orient. Nicht unbedingt nach dem real existierenden, sondern nach einem Ideal. Der Orient verkörpert für ihn Gastfreundschaft, Harmonie und Toleranz. Der Orient wird seine geistige Heimat. 

Essad fühlt sich in der Gemeinschaft seiner russischen Mitschüler:innen zunehmend fremd. Obwohl er noch in russischen Kreisen verkehrt, wie im Hause seiner Mitschülerinnen, der Schwestern des Schriftstellers Pasternak oder im Haus der Nabokovs, wendet er sich der panislamistischen Szene Berlins zu. 

Panislamismus, also die Idee der politischen Einheit der Muslim:innen, ungeachtet ihrer Herkunft, scheint das Richtige für den staatenlosen Kosmopoliten zu sein. 1922 findet sich sein Name unter den Gründungsmitgliedern der Islamischen Gemeinde Berlin. 1924 hilft er bei der Gründung der ihr nahestehenden Studentenverbindung Islamiyya.  

Treffpunkt, Büro und Versammlungsort der muslimischen Studenten ist das Haus der Alexander von Humboldt-Stiftung, das heutige Literaturhaus Berlin in der Fasanenstrasse 23 in Berlin-Charlottenburg. Das Haus kennt Essad schon von seinen Lesungen orientalischer Märchen.  

Die Stiftung verwaltete hier die Stipendien ausländischer Studenten. Es gab günstige Mahlzeiten, aber auch eine Leseecke mit internationalen Zeitungen, Räumlichkeiten für kulturelle Veranstaltungen und Büroräume, die Studentenverbindungen nutzen konnten. 

Essad kleidet sich häufig in orientalischen Kleidern, mit Turban oder Fez. In den Kaffeehäusern Charlottenburgs gleicht er damit der Dichterin Else Lasker-Schüler, die in orientalischen Kleidern als „Prinz Yussuf” auftrat und in ihrer Dichtung den Orient als Ideal beschrieb.  

Die Islamische Gemeinde Berlin, die von den indischen Brüdern Kheiri geleitet wurde, bot Essad jedoch nicht die erhoffte Heimat. Zu sehr standen der antikoloniale Kampf und der immer stärkere Nationalismus im Zentrum der Gruppe. 

Nach seinem Abitur und Studium beginnt er sich in literarischen Zirkeln oder Kaffeehauslesungen als Orientexperte zu profilieren und 1926 gelingt es ihm, eine Anstellung bei der bekanntesten literarischen Zeitschrift Berlins, der „Literarischen Welt”, zu erhalten. Dort wird er einer der produktivsten Autoren. Anfangs noch Teil der russischen Exilcommunity, lehnt er es jedoch zunehmend ab, Russisch zu sprechen. Er möchte als deutscher Autor wahrgenommen werden. 

1929 erscheint sein erster Roman „Öl und Blut im Orient”. Es folgen bis 1942 14 weitere Bücher unter dem Namen Essad Bey. Unter anderem veröffentlicht er eine Biographie des Propheten Muhammed, die bis heute verlegt wird und eine vielbeachtete Biographie Stalins. Nachdem ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Publikation von Büchern verboten wurde, veröffentlicht er weitere Bücher unter dem Namen Kurban Said. Sein bekanntestes Buch, der Liebesroman „Ali und Nino”, gilt heute als Nationalepos Aserbeidschans. 

Als „Strohfrau” für Kurban Said hilft ihm die Baronin von Ehrenfels, deren Mann Baron Rolf Omar von Ehrenfels schon 1927 in der Wilmersdorfer Moschee zum Islam übergetreten war und die mit Essad Bey befreundet ist. 

Essad Bey stirbt schon sehr früh im Alter von 36 Jahren 1942 in Positano. Sein Einfluss auf ein damals positives Orientbild der Deutschen ist nicht zu unterschätzen. 

Zum Weiterlesen: 

Reiss, Tom, Der Orientalist – Auf den Spuren von Essad Bey, Berlin 2008 

Bildnachweis:  

Vortragsraum Literaturhaus Berlin, Bild aus der Bildungsreise „Muslimische Spuren in deutscher Heimat“ 2021